«Liberale verlangen, dass alle von ihrer Freiheit Gebrauch machen können»
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Kaum ein Begriff hat in der Pandemie so stark bewegt wie die Freiheit. «Ach, die Freiheit. Die Arme. Sie muss derzeit für alles Mögliche und Unmögliche herhalten. Von allen Seiten wird sie belagert. Von rechts, von links, von oben, von unten», schrieb Philosoph und Moderator Yves Bossart jüngst. Massnahmenkritiker forderten die Freiheit zurück, also ein Ende der vom Staat verhängten einschränkenden Massnahmen. Massnahmenbefürworter forderten Freiheit ein – durch staatliche Massnahmen zum Schutz und als Freiheit vor der Übertragung des Virus. René Rhinow, emeritierter Professor für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Basel und ehemaliger Ständerat (FDP), hat sich in seinem im Frühjahr 2022 erschienenen Buch «Freiheit in der Demokratie» umfassend mit den unterschiedlichen Freiheitsbedürfnissen und der Frage eines zeitgemässen Liberalismus auseinandergesetzt. Mit der Interview-Serie «Polittrends auf der Spur» beleuchtet die Schweizerische Bankiervereinigung (SBVg) mit Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft aktuelle Entwicklungen, die Bundesbern und unsere Demokratie bewegen. In dieser Spurenlese gehen wir den Thesen von René Rhinow über einen zeitgemässen Liberalismus näher nach.
Herr Rhinow, der Staat hat zur Bekämpfung der Coronapandemie Massnahmen ergriffen, die einschneidend waren. Maskenpflicht, Schliessung von Läden oder Zertifikatspflicht sind einige solche Beispiele. Wie beurteilen Sie die Massnahmen des Bundesrates aus einer liberalen Sicht?
René Rhinow: Der Bundesrat musste eine Abwägung unterschiedlicher Freiheitsbedürfnisse vornehmen. Einerseits wurden Freiheitsrechte wie die persönliche Freiheit oder die Wirtschaftsfreiheit zum Teil massiv eingeschränkt. Anderseits galt es, das elementare Recht auf Leben und Gesundheit vieler Menschen zu schützen. Zudem entspricht es einem legitimen öffentlichen Interesse, die Funktionsweise des Gesundheitswesens zu gewährleisten. Ob dem Bundesrat diese heikle Abwägung gelungen ist, kann erst im Nachhinein beurteilt werden. Aber im Grundsatz sind solche Abwägungsprozesse aus liberaler Sicht nicht zu beanstanden, ja oft geboten.
Hat sich das Verständnis darüber, was Freiheit heute bedeutet, aufgrund der Coronapandemie verändert? Wenn ja, wie?
Jedenfalls hat die Diskussion über die Freiheit und ihre Bedeutung zugenommen, was an sich erfreulich ist. Liberale verlangen, dass alle von ihrer Freiheit Gebrauch machen können. Ich hoffe, dass vermehrt ins Bewusstsein geraten ist, dass Freiheit nicht nur denjenigen zusteht, die sie für sich reklamieren, sondern auch anderen, für die dem Gemeinwesen eine Schutzpflicht obliegt. Deshalb findet jede Freiheit ihre Grenzen an der Freiheit Anderer.
Sie zitieren in Ihrem Buch den Philosophen Isaiah Berlin: «Die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer.» Warum haben Sie dieses Zitat gewählt?
Weil ein übermässiger Freiheitsgebrauch oft zulasten von schwächeren Menschen geht. Das Zitat von Berlin bringt das schön zum Ausdruck. Freiheit und Freiheitsrechte bewähren sich beim Schutz von Minderheiten!
Vertiefen wir diese Freiheit in der Gesellschaft. Sie haben kürzlich in der NZZ geschrieben: «Freie individuelle Entfaltung bedarf existenzieller, positiver Voraussetzungen, für die auch der Staat Verantwortung trägt. Der Mensch ist auf andere und auf staatliche oder gesellschaftliche Institutionen angewiesen, wenn er seine Lebenschancen wahrnehmen will.» Wo stehen wir in der Schweiz heute? Was muss zusätzlich oder anders erfüllt sein, damit wir als Schweiz von uns sagen dürfen, wir lebten in einer freien Gesellschaft?
Im Vergleich mit anderen Staaten und Gesellschaften steht die Schweiz sicher gut da. Aber Freiheit ist nie endgültig gesichert. Sie bedarf immer wieder der Prüfung, ob angesichts der sozioökonomischen Veränderungen und des staatlichen Wandels die Voraussetzungen zum Freiheitsgebrauch für alle Menschen gegeben sind.
Der Liberale betrachtet den Menschen. Sie sprechen in ihrem Buch von der «Menschenwürde». Jeder Mensch sollte dieselben Rechte und Pflichten haben, unabhängig von Nationalität und Herkunft. Doch Ausländerinnen und Ausländer haben in der Schweiz, etwa in Bezug auf demokratische Mitwirkung, nicht dieselben Rechte wie Schweizerinnen und Schweizer. Was sagen Sie als Liberaler dazu?
Die Freiheit des Liberalismus umfasst auch die politische Freiheit. Ich bedaure, dass allen Ausländerinnen und Ausländern die aktive demokratische Mitwirkung untersagt ist. Und dass es der Schweiz so schwerfällt, darüber vorurteilsfrei zu diskutieren. Die Demokratie geht von der Vorstellung aus, dass alle, die vom staatlichen Recht betroffen sind, auch über dieses Recht befinden können. Dass also eine Annäherung an eine Identität von Regierenden und Regierten anzustreben ist. Ich sehe grundsätzlich zwei (kombinierbare) Wege, diesem Ziel näher zu kommen: entweder durch erleichterte Einbürgerungen oder durch eine schrittweise Ausdehnung der politischen Rechte.
Kommen wir zur Freiheit in der Wirtschaft. Der Staat hat im Zuge der Pandemie stark ins Wirtschaftsgeschehen eingegriffen. Die Post-Corona-Zeit könnte einen Neustart bedeuten. Wie gelangen wir zu einem Rahmen, der es erlaubt, dass wir wirklich von «Wirtschaftsfreiheit» in der Schweiz sprechen können?
Auch hier meine ich, dass im Ländervergleich die Schweiz nicht schlecht dasteht. Ich bin nicht in der Lage, in wenigen Sätzen ein Programm zur Förderung der Wirtschaftsfreiheit zu entwickeln. Zudem stellen sich schwierige Fragen, weil die Freiheitsbedürfnisse in der Wirtschaft unterschiedlich sind und dem Staat verschiedene Funktionen zukommen wie etwa: Gewährleistung der Infrastruktur, der «Grundausrüstung» und der Gesundheitsversorgung, Schutz eines funktionierenden Wettbewerbs, Förderung anderer Freiheitsanliegen zum Schutz der Menschenwürde aller, und so weiter. Letztlich steht und fällt (auch) die Wirtschafsfreiheit mit der Bereitschaft aller Betroffenen, auch der Unternehmer, Freiheit «zu wollen» und ihre Risiken zu ertragen.
Wenn wir die Dimension der Umwelt hinzunehmen, gelangen wir zu «liberalen Binnenkonflikten», wie Sie sagen. Was verstehen Sie darunter? Und wie können wir sie lösen?
Liberale Binnenkonflikte gehen von der Einsicht aus, dass es in der Lebenswirklichkeit oft darum geht, verschiedene Freiheitsbedürfnisse zu anerkennen und dann gegeneinander abzuwägen. Davon war im Zusammenhang mit der Coronapandemie bereits die Rede. Es geht nicht nur darum, Freiheit gegenüber dem Staat abzuschirmen, sondern die Freiheit aller, auch der künftigen Generationen, ernst zu nehmen und zu schützen. Hier hat der demokratische Staat oft eine Schutzfunktion und eine «Schiedsrichterrolle» wahrzunehmen, sei es durch demokratische Prozesse, sei es durch Gerichtsverfahren. Die primäre Legitimation des rechtsstaatlich-demokratischen Gemeinwesens liegt im Schutz der Freiheit aller.
Fast jede Partei schreibt sich die «Freiheit» auf ihre Fahnen. Wenn sie einen Wunsch an diese Parteien haben, welcher wäre das?
Dass sie sich konkret damit auseinandersetzen, was Freiheit in der heutigen Welt bedeutet, wessen Freiheit auf welche Weise zu fördern und gegenüber welchen Gefahren und Mächten Freiheit zu schützen ist... Also die oft plakative Anrufung der Freiheit herunterzubrechen auf die Welt, in der wir leben. Das ist anspruchsvoll und entzieht sich einem Schwarzweiss-Denken.
Herr Rhinow, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.