Meinungen
29.09.2022

«Man muss aushalten können, dass man sich nicht von Grund auf einig ist»

Für das Funktionieren unserer Demokratie sind Dialog- und Kompromissbereitschaft zentrale Faktoren. Doch immer häufiger kommt es vor, dass politische Gegner gar nicht mehr miteinander sprechen. Mit dem Projekt #Lasstunsreden will die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG) diesem Trend gezielt entgegenwirken. Wie das geht, erklärt uns Nicola Forster, Präsident der SGG.
Beitrag vonSilvan Lipp
Nicola Forster, Präsident der SGG

«Raus aus der Filterblase! #Lasstunsreden bringt Andersdenkende ins Gespräch.» Mit diesem Aufruf lancierte Pro Futuris, der Think & Do Tank der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft (SGG), eine neue Dialogreihe, die Menschen mit unterschiedlichen Meinungen zum Gespräch zusammenbringt. Ziel ist es, das gegenseitige Verständnis in unserer Demokratie und den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Denn auch in der Schweiz nimmt die Polarisierung der Gesellschaft zu – die Debatten während der Corona-Pandemie haben dies gezeigt. Doch wie polarisiert ist unsere Gesellschaft tatsächlich? Und wie begegnen wir dieser Herausforderung am besten? Mit der Interview-Serie «Polittrends auf der Spur» beleuchtet die Schweizerische Bankiervereinigung (SBVg) mit Persönlichkeiten aus Politik und Wissenschaft aktuelle Entwicklungen, die Bundesbern und unsere Demokratie bewegen. In dieser Ausgabe sprechen wir mit Nicola Forster, Präsident der SGG, über die Debattenkultur in der Schweiz und anderswo.

Lieber Nicola, wann hast Du das letzte Mal mit einer Person über Politik gesprochen, die völlig andere Einstellungen hat als Du?

Nicola Forster: Gerade gestern.

Und wie ging das Gespräch aus?

Zuerst haben wir miteinander gestritten. Ich musste zugeben, dass seine Perspektive durchaus auch legitim ist. Glücklicherweise war mein Gesprächspartner sehr humorvoll, und wir haben am Schluss herzhaft zusammen gelacht.

Wir erleben in den USA zwei grosse Parteien, die wie in «Filterblasen» ihre Positionen kommunizieren, ein echter Dialog ist selten geworden. Was bedeutet das für eine Demokratie?

Für eine Demokratie ist das verheerend. Gemässigte Stimmen gehen unter, wenn extreme Pole lauthals die Debatte bestimmen. So wird es umso schwieriger, politische Kompromisse zu finden, die für eine Demokratie zentral sind. Der Rückzug in unterschiedliche «Filterblasen» hat auch zur Folge, dass ihre Mitglieder die Welt ganz unterschiedlich deuten. So verschwindet das gemeinsame Verständnis. Wenn man sich nicht mehr einig ist über die Welt, in der man lebt, und die Probleme, die es zu lösen gilt, kann man keine demokratischen Entscheide finden.

In den USA geht die Polarisierung inzwischen sehr weit. Wie beurteilst Du die Polarisierung in der Schweiz?

Die Schweiz ist stark polarisiert. Das zeigt eine Studie der Harvard-Universität, die die affektive Polarisierung in 12 OECD-Staaten untersucht hat: Nach den USA hat die Schweiz die zweithöchsten Werte an affektiver Polarisierung. Das heisst, dass die Menschen in der Schweiz negative Gefühle gegenüber Menschen haben, die sie einer anderen Gruppe zuordnen. Viele lehnen also Andersdenkende ab und umgeben sich mit Gleichgesinnten. Das führt am Ende so weit, dass unsere Gruppenzugehörigkeit bestimmt, wie wir abstimmen oder wählen, statt sachpolitische Argumente. Unsere Schweizer Konsens-Politik ist jedoch dafür gemacht, dass im Austausch untereinander die beste Lösung ausgehandelt wird. Dafür muss man miteinander reden. Und man muss aushalten können, dass man sich nicht von Grund auf einig ist.

In der Schweiz beurteile ich die Dialogkultur grundsätzlich als intakt und respektvoll. Braucht es die Initiative #Lasstunsreden überhaupt?

Ich nehme eher wahr, dass wir Gespräche über politische Gräben hinweg vermeiden, weil wir nicht in einen Konflikt geraten möchten. Und die schwierige Coronazeit hat diese noch verschärft. Oder wir schlagen uns anonym in Kommentarspalten die Köpfe ein. Sich aber tatsächlich auf das Gegenüber einzulassen und zuzuhören, ist gar nicht so einfach und müssen wir üben, um es nicht zu verlernen. Oft haben wir nach einer politischen Äusserung schon ein vorschnelles Urteil über die Person. #Lasstunsreden durchbricht diesen Mechanismus, in dem es die Leute explizit in einen Dialog bringt. Das Team hat etwa einen Gesprächsleitfaden entwickelt, der hilft, einen kontroversen Dialog zu strukturieren und den Fokus aufs Zuhören zu setzen. Aus den ersten Gesprächen kamen dazu sehr dankbare Rückmeldungen, es braucht #Lasstunsreden also durchaus.

Gibt es ein Follow up nach den Gesprächsrunden? Was resultiert aus #Lasstunsreden?

Das Projektteam wird #Lasstunsreden mehrmals in unterschiedlicher Grössenordnung durchführen. Sie wollen dabei herausfinden, wie ein konstruktiver Dialog gelingt und was er bei den Teilnehmenden bewirkt. Dafür arbeiten sie mit dem ETH Spin-Off «Policy Analytics» zusammen, das die Dialogreihe wissenschaftlich begleitet. Wenn sich bestätigt, was wir vermuten – dass solcher Dialog hilft, Toleranz zu schaffen und gegenseitige Abneigung abzuschwächen – dann ist es das Ziel, das Format dauerhaft zu etablieren. So soll es   den Menschen in der Schweiz regelmässig die Möglichkeit bieten, den Dialog zu üben.

#Lasstunsreden: So funktioniert es

Um mitzumachen, beantworten die Interessierten auf lasstunsreden.ch zehn Fragen zu ihrer politischen Haltung. #Lasstunsreden verbindet sie dann mit jemandem mit einer maximal unterschiedlichen Meinung. Diese Personen treffen sich zu zweit zu einem rund 90-minütigen Gespräch, für das sie einen Gesprächsleitfaden mit wertvollen Tipps für einen konstruktiven Austausch erhalten. Die ersten Gespräche fanden bis Mitte September statt. Weitere Durchführungen sind im Jahr 2023 vorgesehen.

Oft ist die Rede davon, dass die Gesellschaft die Wirtschaft nicht mehr versteht – und umgekehrt. Was können Wirtschaftsverbände und Unternehmen noch besser tun, um den Dialog mit der Bevölkerung zu stärken?

Sie können sich mit der Zivilgesellschaft vernetzen und gemeinsam Projekte lancieren oder bestärken. Verbände haben etwa #Lasstunsreden ideell und kommunikativ unterstützt und so ihr Netzwerk zum Dialog eingeladen. Auch können Unternehmen in die Freiwilligenarbeit investieren, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft und dem öffentlichen Sektor, wie dies das SGG-Programm «engagement-lokal» fördert. Oder sie ermöglichen den Mitarbeitenden Freiwilligeneinsätze. Das könnte ein Beitrag der Unternehmen sein, den Dialog in der Bevölkerung zu fördern und zu stärken.

Zum Schluss: Im Wahlkampf zu den Nationalratswahlen 2019 hast Du dich für ein «Update der Demokratie» ausgesprochen. Wo genau braucht unsere Demokratie ein Update?

Wir glauben ja immer, dass wir mit der direkten Demokratie weltweit führend sind. Das stimmt natürlich! Allerdings können wir in Abstimmungen nur Ja oder Nein sagen. In anderen Ländern und grossen Städten gibt es heute viele spannende Projekte, die es den Bürgerinnen und Bürgern erlauben, sich mit ihren Ideen und Vorschlägen digital und vor Ort einzubringen und so die Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Die Schweiz wäre prädestiniert, um auch hier eine Pionierrolle zu spielen.

Lieber Nicola, ich danke dir für das Gespräch.

Dieses Interview wurde schriftlich geführt.

 

InsightPolitik

Autoren

Silvan Lipp
Ehemaliger Leiter Communications & Public Affairs, Mitglied der Geschäftsleitung
+41 58 330 62 06